"Paulus" in der Schlosskirche: Glänzend und bewegend
Der Anklang an den Beginn der ersten Szene des „Lohengrin“ dringt durchaus nicht zufällig ins Ohr. Richard Wagner, der eine zustimmende Rezension zum Werk des großen Kollegen schrieb, erinnerte sich Mitte der 40er Jahre sehr genau an den Beginn des anderen Opus‘, über das er seinerzeit so begeistert berichtet hatte.
Also Mendelssohns „Paulus“! Dass er in der ersten Festspielwoche in einer glänzenden wie bewegenden Aufführung in der Bayreuther Schlosskirche zur Aufführung kam, ist sicher nicht dem Umstand geschuldet, dass heuer der „Lohengrin“, der mit der gleichen unverwechselbaren rhythmischen Bewegung beginnt, pausieren muss. Eine Aufführung des ersten der beiden großen Oratorien Felix Mendelssohn Bartholdys bedarf zumal dann keiner Begründung, wenn es derart informiert und sensibel realisiert wird. Am Pult stand Regionalkantor Sebastian Ruf, der bereits am Vortag, in der samstäglichen Festspiel-Matinée, die Ouvertüre zum „Paulus“ in einer Orgelfassung werbewirksam zu Gehör brachte. Wird heute der „Paulus“ gespielt, so weniger aus theologischen Gründen – das war schon 1836 nicht der Fall, als das Werk in weltlichen Räumen ur- und erstaufgeführt wurde. Über die Theologie könnte man allerdings auch und gerade in Sachen Paulus streiten, zumal der eigentliche Gründer der Kirche bei manchen Kritikern einen schlechten Ruf hat; das Martyrium legitimiert da keinesfalls das Hardlinertum, mit dem der Apostel, der Jesus nicht persönlich erlebt hat, die neue Religion befestigte und, wie einst Saulus, über seine ideologischen Gegner herzog. Die Folgen sind bekannt – und die Rede von den „Sündern“, die der zum Paulus gewordene Mann aus der heutigen Südtürkei im Munde führte (siehe Nr. 18 des Oratoriums), könnte bei kürzerem Nachdenken eher gegen den Zustand der heutigen Kirche und ihrer unchristlichsten Vertreter als gegen irgendwelche „Heiden“ in Anschlag gebracht werden. Das Werk ist, man sieht‘s, trotz oder gerade wegen seiner finalen Setzung, dass nicht allein der Heilige, sondern auch die Gläubigen (und gläubigen Zuhörer) die „Krone der Gerechtigkeit“ empfangen werden, nun ja, problematisch.
Der Rest aber ist die Musik. Wer heute den „Paulus“ aufführt und genießt, muss sich nicht mehr über theologische Bedenken Gedanken machen, auch wenn dem Werk dadurch etwas Wesentliches genommen werden mag. Wenn der Chor der Schlosskirche zusammen mit einem sehr guten Solistenquartett und den Hofer Symphonikern unter dem Regionalkantor den „Paulus“ in die Schlosskirche bringt, werden Fragen nach der religiösen Relevanz des Oratoriums seltsam unwichtig. Denn Kunst ist alles, wo die Energie, die die Aufführung durch die schiere Präsenz der Beteiligten provoziert, Wagners spätes Wort von der Kunstreligion zu legitimieren vermag. Hier ist also alles richtig: die Tempi – denn Ruf hat es geschafft, seinem Ensemble das Wort-Ton-Verhältnis durch rhythmisch genaue Zeichengebungen und eine flexible, doch nicht willkürliche Zeitgestaltung mitzuteilen. Damit hängt der jeweilige Sinn zusammen: wo das Tempo jedes Satzes und jeder Phrase stimmt, erklingt ein Drama, dessen lyrische Partien die Handlung quasi logisch akzentuieren. Es ist nicht allein wunderbar, den vielleicht berühmtesten Satz zu hören; der Chor „Siehe! Wir preisen selig, die erduldet haben“ wiegt weich in uns hinein – der Chor und die Solisten aber können auch anders. Mit dem initialen „Herr, der du bist der Gott“ und dem heftig intonierten Turba-Chor „Steiniget ihn“ wird der andere Pol vermessen. So bewegt sich die Aufführung zwischen dramatisch wie erratisch formulierten Episoden und beseelten Passagen hin und her, um ein Ganzes zu schaffen.
Schön auch, dass jeder der vier Solisten weiß, was er/sie da singt. Claraliz Moras heller, jugendlicher Sopran erfüllt die erzählenden Partien mit Anmut und Anteilnahme – wer Ohren hat, zu hören, wird spätestens mit den Koloraturen, die sie auf das Wörtlein „Ewiglich!“ singt, die Schönheit des nazarenischen Originalklangs Felix Mendelssohn Bartholdys schätzen lernen. Kontraste sind auch im Vokalquartett des „Paulus“ viel: Der Tenor Thomas Kiechle deklamiert, predigt, leidet und erläutert die Paulus (und Stephanus-Martyriums)-Geschichte mit aller möglichen Stimmschönheit und artikulatorischen Genauigkeit. Der Bass Niklas Mallmann, eine helle Stimme, steht ihm an deklamatorischer Präzision in nichts nach; hier wird nicht gebrummt. Schließlich Julia Hilpert, die die relativ wenigen Passagen ihres Alt-Parts nicht weniger deutlich bringt.
So verschwistern sich Emphase und Erzählung, Botschaft und Bericht, Empfindsamkeit und Erregung, Lyrik und Prosa. Dem Wagner-Freund mag (wieder) aufgefallen sein, dass Wagner nicht allein den Beginn des Werks zitiert und gewinnbringend weiterverarbeitet hat, sondern auch die hohen, ausschwebenden Flöten in Saulus‘ Berufungsszene noch im Spätwerk des „Parsifal“ verwerten konnte. Wagner „stahl“ nur von den Besten – einen dieser Besten hat man nun, mit einem seiner besten Werke, in einer meisterhaften Aufführung erleben dürfen.
Frank Piontek, 31. Juli 2023