Brillante Aufführung von Membra Jesu nostri
Grandiose Premiere des neugründeten Kammerchores der Schlosskirche
Alles begann damit, dass Sebastian Ruf, seines Zeichens Regionalkantor, vor einigen Monaten einen Kammerchor ins Leben rief. Das Ensemble setzt sich überwiegend aus ausgewählten Mitgliedern des Schlosskirchenchores und des Jungen Vokalensembles sowie sängerisch qualifizierten Gästen zusammen. Der Kammerchor besteht beim ersten Auftritt aus 24 Mitgliedern, darunter – sehr zur Freude der Gemeinde - auch Dr. Christian Karl Steger, Pfarrer an unserer Schlosskirche und gesanglich bestens aufgestellt.
Was ist denn bitteschön eine Violone? Ein Tippfehler? Nein, es handelt sich um ein historisches Streichinstrument der Gambenfamilie, quasi ein Vorläufer des Kontrabasses. Zur Violone gesellen sich zwei Violinen, zwei Gamben und eine Orgel. Dieses von Regionalkantor Sebastian Ruf zusammengestellte Projekt-Barockensemble „Domina nostra“, bestehend aus absoluten Spezialisten für Alte Musik, sollte sich als kongeniales Gegenstück zum Kammerchor erweisen.
Die beiden Gamben des Orchesters eröffnen das Passionskonzert mit der Sonate VI in g-moll von Johannes Schenck (1660-1712*), einem deutsch-niederländischen Komponisten und Gambenspieler. Schon nach wenigen Takten versetzen die Musikerinnen die Zuhörer in der gut gefüllten Schlosskirche durch ihr lebendiges, homogenes Spiel in die Welt feinsinniger, effektvoller Kammermusik des Barock.
Zwei a-cappella Stücke des Kammerchors, Tristis est anima von Johann Kuhnau, Zeitgenosse Schencks, und Die mit Tränen säen von Johann Hermann Schein (1586-1630) bereiten den Weg zum Kernstück des Konzerts: Dietrich Buxtehude (1637-1707) Membra Jesu nostri, BuxWV 75 (wörtlich: Die Gliedmaße Jesu). Wie als Orgelkomponist, so steht Buxtehude auch als Kantatenschöpfer unmittelbar vor Bach; er hat in der Verbindung von Arie und Choral, von subjektiver Lyrik und liturgischer Symbolik die Form vorbereitet, die Bach durch den Reichtum seines religiösen Erlebens zur Vollendung brachte.
Membra Jesu nostri ist zyklisch konzipiert und folgt einem Modell, das als Concerto-Aria-Kantate beschrieben wird. Der Text des Stückes basiert auf einer lyrischen Dichtung von Arnulf von Löwen (um 1200-1250). Dadurch steht im Mittelpunkt des Werks nicht die Passion – das dramatische Element – sondern eine meditative Betrachtung der Gliedmaßen des Gekreuzigten. Die Konzeption des Werkes erlaubt dem Kammerchor, sich in all seinen Facetten zu präsentieren. Nicht nur überrascht sein homogenes, dynamisches Klangbild in den tutti Partien, deren Bibelzitate die Füße, Knie, Hände, Seite, Brust, das Herz und Gesicht Jesu betrachten. Immer wieder treten einzelne Sänger und Sängerinnen aller vier Stimmlagen, auch in wechselnden Kleinensembles, aus dem Halbkreis vor den Altar. Ihre Arien seufzen, bitten, flehen, klagen, versetzen uns Zuhörer in tiefe Meditation, lassen uns mitfühlen, mitleiden, lassen uns auf Erlösung hoffen. Gebannt lauschen wir, kein Räuspern, Niesen, Husten. Wie gut und schön gesungen wird, wie tief empfunden! Wie das Orchester mit den Sängern verschmilzt, so selbstverständlich! Wie professionell das Dirigat!
Selig sind die Toten – dessen Text aus der Offenbarung des Johannes stammt - von Heinrich Schütz (1585-1625) beschließt das Konzert und knüpft unmittelbar an das Gebet des letzten Chorsatzes von Buxtehude an. Der Krieg in der Ukraine ist allgegenwärtig. Überwältigtes Schweigen. Mit einem langen Applaus bedanken sich die Zuhörenden bei Chor, Orchester und Dirigent für einen Konzertabend, der allen Beteiligten noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Franziska Gerneth